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Systemische Perspektiven auf die Krise & die Zeit danach

Das ewiggleiche Mantra: Die Krise als Chance

Aus einer systemisch-konstruktivistischen Sicht überrascht es nicht, dass wir aktuell ganz unterschiedliche Einschätzungen und Interpretationen der Corona-Krise hören und lesen.
Nicht selten wird das Mantra der Chance, die in der Krise liegt, bemüht: Wir haben nun die Möglichkeit innezuhalten, uns zu besinnen auf die wahren Werte, auf unsere solidarische Gemeinschaft und haben endlich Zeit für unsere Familie. Manager fliegen nicht mehr für ein Meeting um die halbe Welt, sondern nutzen die vielfältigen Online-Möglichkeiten. Vielleicht findet auch ein Umdenken in unserer, auf permanentes Wachstum getrimmten Wirtschaft statt, weil die Erkenntnis reift, dass es so nicht weitergehen kann.
Selbstständige, die nicht wissen, wie sie die nächsten Wochen finanziell überstehen sollen, Unternehmer, deren Firmen kurz vor der Insolvenz stehen, Alleinerziehende im Homeoffice, die ihre Kinder bei Laune halten sollen, während sie um ihren Arbeitsplatz fürchten und bedürftige Familien, die auf soziale Dienste verzichten müssen, werden diesen positiven Rahmungen der Krise aber wenig abgewinnen können – ganz im Gegenteil. Es steht viel auf dem Spiel und Gefühle der Ohnmacht, Wut und Angst werden sich zunehmend ihren Raum nehmen.
All diese Einschätzungen haben ihre Berechtigung, denn jede Beobachtung wird von einem Beobachter gemacht, der seine Gründe hat, die Welt so und nicht anders zu sehen.

Verschwörungstheorien & Aluhüte

Am Rande der Arena der Bedeutungszuschreibungen tummeln sich Verschwörungstheoretiker, die endlich mal wieder einen interessanten Referenzpunkt haben. Einige scheuen auch nicht davor zurück, das Virus zu anthropomorphisieren: So wird in einem kursierenden Video dem Virus eine Stimme gegeben und das Virus prangert die Verdorbenheit der Menschen an. Das Virus meint es nur gut und will den Menschen aufzeigen, dass sie so nicht weiterleben können: Das Ziel sei eine bessere Welt. Derartige Deutungsangebote erinnern schon sehr an die religiöse Betrachtungsweise der Pest im Mittelalter als Geisel Gottes. Somit ist diese Sicht auch menschlich, wenn auch ein wenig aus der Zeit gefallen.
In den aktuellen politischen Zeitgeist passen jedoch die Bestrebungen einiger Autokraten, die Corona-Krise zum Ausbau ihrer Macht zu missbrauchen. Strukturell birgt die aktuelle Krise die Gefahr, dass freiheitlich-demokratische Strukturen außer Kraft gesetzt werden und einzelne Krisenmanager die Angst der Bevölkerung zum eigenen Machtausbau nutzen. Das kollektive Bedürfnis nach starker Führung ist nie größer als in einer Krise. Auch ökonomisch versuchen einige findige Unternehmer aus der Krise Profit zu schlagen und verkaufen Schutzmasken mit 3000 Prozent Aufschlag. Diesen Phänomenen stehen natürlich zahlreiche positive und ermutigende Beispiel gegenüber: Junge Menschen kaufen für ältere Menschen ein, die Politik beschließt in Windeseile immense Soforthilfen, in Hackathons entstehen kreative Ideen und zahlreiche Dienstleistungen werden online angeboten. Schon diese verkürzte Bestandsaufnahme, die sich noch gar nicht mit dem immensen Bedeutungszuwachs von Klopapier in der deutschen Kultur beschäftigt hat, zeigt eine enorme Bandbreite an Interpretationen und Handlungsmöglichkeiten, die sich aktuell ergeben.

Perspektiven – eine subjektive Auswahl:

Wir haben im Folgenden einige – aus unserer Sicht – interessante Perspektiven auf die Krise und vor allem auf die Zeit nach der Krise zusammengestellt. Aber auch diese Auswahl ist eine Konstruktion und unsere Absicht ist eine positive Irritation. Ob dies gelingt, könnt nur ihr als Leser entscheiden.
  • Eine Analyse der Gefahren und Chancen und ein Plädoyer für mehr Solidarität bietet das Interview des Bestsellerautors Yuval Harari.
  • Das ‚Von-Vorne-Szenario‘ des Zukunftsforschers Matthias Horx ist wohl einer der meistgelesenen und -geteilten Texte der letzten Wochen. Hoffen wir hier mal auf die Kraft der sich-selbst-erfüllenden Prophezeihung. Seine Methode der Re-Gnose ist für Systemiker auch insofern interessant, weil sie im Prinzip wie die Wunderfrage von Steve de Shazer funktioniert.
  •  Nicht ganz so optimistisch schätzt die Philosophin Lisz Hirn die aktuelle Situation ein. Sie akzentuiert etwas mehr die Gefahren, die mit der Krise verbunden sein können. Auch diese Perspektive soll hier einen Raum haben.