Wie kann man die aktuelle Corona-Krise aus einer systemtheoretischen Perspektive interpretieren?
Die Systemtheorie geht von der zentralen Prämisse aus, dass lebende Systeme nicht deterministisch steuerbar sind und erteilt dem einfachen Ursache-Wirkungs-Denken, das wir im Alltag so gerne verwenden, eine klare Absage. Die aktuelle Krise ist ein eindrucksvoller Beleg für diese theoretische Annahme: Die Folgen der Entscheidungen sind nicht absehbar. Isoliert betrachtet könnte zwar das Virus durch entsprechende lange, weltweite Quarantäne ausgerottet werden. Dies ist aber nicht lange genug durchzuhalten, weil psychische, soziale und wirtschaftliche Folgen nicht vertretbar wären. Die Entscheider tappen somit im Systemdunkel und können nur versuchen, unterschiedliche Systemdynamiken auszubalancieren. Letztendlich wird nach der Methode Versuch und Irrtum vorgegangen.
Also Trial and Error?! Welche Beobachtungen machen Sie bei diesen Versuchen, die richtigen Entscheidungen zu treffen?
Vor der Krise war der Managementdiskurs geprägt von Agilität und selbstorganisierten Teams. Eine starke Führung oder hierarchische Strukturen galten als überholt und altmodisch. In Krisensituationen hingegen ertönt wieder der Ruf nach starken Führungspersönlichkeiten. Und diese treten nun in Form von Frau Merkel, Herrn Söder oder den Virologen, die mehr in Talkshows als in Laboren zu sein scheinen, in Erscheinung und erfahren eine hohe Akzeptanz bei der Bevölkerung. Es zeigen sich zwar auch Initiativen, die stärker dem Paradigma der Selbstorganisation zuzuordnen sind — beispielsweise Hackatons. Diesen mangelt es aber an Entscheidungsmacht, um nachhaltig wirken zu können. Während das Krisenmanagement bei uns recht gut zu funktionieren scheint, zeigt ein Blick in die USA, welche fatalen Auswirkungen es haben kann, wenn die falschen Menschen in derartigen Situationen Entscheidungen (nicht) treffen.
Wechseln wir von der gesellschaftlichen Ebene zu den Menschen, die von der Krise schwer getroffen sind, weil ihre berufliche Existenz gefährdet ist. Kann in diesen Fällen ein Blick auf die Chancen, die in jeder Krise stecken, helfen?
Wenn Sie einem Menschen, der sich in einer akuten Krise befindet, sagen, dass er sich doch auf das Positive konzentrieren soll, dann vermitteln Sie ihm die Botschaft: ‚Ist doch alles gar nicht so schlimm, es gibt auch positive Seiten‘. Auch wenn dem so ist, fühlt sich diese Person in diesem Moment noch schlechter, weil sie sich zum einen nicht verstanden fühlt und zum anderen aktuell einfach nicht in der Lage ist, die Dinge positiv zu sehen. Dazu ist sie zu sehr in ihren kognitiven und emotionalen Mustern gefangen.
Was kann man dann tun?
Zunächst geht es darum die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist. Bei der Verarbeitung von Krisen kommt es (meist) zu unterschiedlichen Phasen, in denen man die Krise leugnet, dagegen ankämpft oder aber resigniert und sich niedergeschlagen fühlt. Dem Annehmen der Situation steht meist die Forderung entgegen, dass die Welt so sein muss, dass es mir jederzeit gut geht. Leider kümmert sich die Welt nicht darum, sondern es passieren viele gegenteilige Dinge. Die entscheidende Frage ist, wie gehen wir mit diesen widrigen Situationen um.
Und wie können wir Krisen besser akzeptieren?
Die Akzeptanz hängt wesentlich von unseren inneren Selbstgesprächen ab: Wenn ich mir sage: ‚Oh Gott, wie furchtbar, das ist eine absolute Katastrophe! Ich halte es nicht aus, wenn ich mein Geschäft aufgeben muss!‘, dann werde ich mich auch entsprechend fühlen und meine Handlungsmöglichkeiten werden stark eingeschränkt sein. Wenn ich mir stattdessen sage ‚verdammter Mist‘, dann akzeptiere ich, dass es sich um eine unangenehme Situation handelt. Da gibt es nichts schönzureden: Die Situation ist vielleicht sogar höchst unangenehm. Aber wenn ich das akzeptiere, dann fühle ich mich nicht von einer Katastrophe überwältigt und bin nicht gelähmt, sondern ich kann mir Gedanken machen, wie ich diese Situation ändern kann. Und sollten diese ersten Änderungsversuche nicht den gewünschten Erfolg haben, dann ist das auch keine Katastrophe, sondern bleibt eine unangenehme Situation, die eben aktuell noch nicht verbessert werden konnte.
Das hört sich zwar plausibel, aber auch sehr herausfordernd, wenn nicht gar überfordernd für jemanden an, der in einer akuten Krise steckt.
Das stimmt! Die eben skizzierte ‚Verdammter-Mist-Methode‘ stammt aus dem psychotherapeutischen Ansatz von Albert Ellis und es ist nicht so einfach — gerade in Krisensituationen — die gewohnten Denkmuster allein zu ändern. Für die Betroffenen ist es wichtig mit jemanden reden zu können, der wirklich da ist und die Not versteht, mit diesem Verstehen kommt es zu einer ersten Entlastung. Hilfreich ist es, wenn dieser Gesprächspartner ein krisenerfahrener Coach, Supervisor oder Therapeut ist. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen ihre aktuelle Situation akzeptieren, eigene Ressourcen und Ressourcen im Umfeld entdecken, die sie nutzen können. Kurz: Es bieten sich wieder mehrere Handlungsmöglichkeiten, die vorher nicht gesehen werden konnten.
Vielen Dank für das Interview!